Weiblichkeit im Tanz

Mit 16 hatte ich eines Nachts einen bedeutungsvollen Traum:

Ich liege unter Wasser. Warmes, angenehmes, klares Wasser. Ich schlafe und kann unter Wasser atmen. Beim Aufwachen erkenne ich, dass ich im Meer liege, vorne, wo das Wasser noch sehr flach ist. Ich setze mich auf und sehe eine Frau. Sie ist nackt und geht mit dem Rücken zu mir in das Meer hinein. Ihre langen dunklen Haare fallen bis auf ihre runden Hüften, und sie geht langsam in das Wasser hinein, als gäbe es keinen Widerstand, als wäre das Element Wasser eins mit ihr. Hinter ihr sehe ich die Sonne untergehen. Der Himmel färbt sich glutrot, das türkise Wasser wird orangefarben. Es ist ein Bild voller Harmonie und Wärme, und ich will aufstehen, um der Frau zu folgen. Doch eine plötzliche unbezwingbare Müdigkeit lässt mich zurück ins Wasser sinken und weiterschlafen.
Als ich nach einiger Zeit wieder erwache, ist die Frau schon etwas weiter ins Wasser gegangen, die Sonne ist ein Stückchen weiter untergegangen. Neben der Frau gibt es jetzt eine zweite Frau mit ebenso langem Haar und denselben breiten Hüften. Wieder hält mich meine Müdigkeit davon ab, ihnen zu folgen, wieder schlafe ich kurz ein und sehe beim neuerlichen Erwachen nun 3 Frauen in ununterbrochener Bewegung langsam ins Wasser gehen. Diese Szene wiederholt sich noch 2 weitere Male. Jedes Mal ist eine weitere Frau dazugekommen, jedes Mal sind sie ein Stückchen tiefer ins Wasser vorgedrungen, und jedes Mal ist der Sonnenuntergang etwas weiter fortgeschritten.
Endlich, beim 5. Mal, schaffe ich es, wach zu bleiben, um ihnen zu folgen. Die Sonne ist inzwischen fast untergegangen, und das Wasser geht den Frauen bis über die Hüften. Da dreht sich die erste der 5 Frauen plötzlich zu mir um. Und in dem Moment verdunkelt sich hinter ihr der Himmel. Das Wasser um sie herum verschwindet, und statt der nackten Frau, steht dort ein Mann im grauen Anzug. Diese Szene wiederholt sich nun sehr schnell hintereinander, als eine Frau nach der anderen sich zu mir umdreht und jetzt 5 Männer im Anzug auf mich zukommen und mich umringen. Ich habe keine Angst. Die Männer sind nicht bedrohlich. Aber eine tiefe Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit überkommt mich.

Dieser Traum begleitete mich durch meine Zeit des Frau werdens, die für mich eine Zeit offener Horizonte, aber auch eine Zeit der Orientierungslosigkeit war.

Ein paar Jahre später zog es mich ins beschauliche Freiburg, um dort mein Studium für Slavistik, Germanistik und Osteuropäische Geschichte zu beginnen. Und wer in Freiburg Slavistik studierte, kam nicht umhin, sich mit Frauenthemen und Gender Studies zu beschäftigen. Das Seminar war klein, und die führende Professorin dort war Frauenbeauftragte der Universität Freiburg. So lernte ich neben der russischen Sprache viel über Frauenbilder, sexistisch gefärbte Literatur und den Unterschied zwischen Geschlecht und Gender kennen. Fleissig untersuchten wir die russische Literatur nach versteckter oder offensichtlicher Frauendiskriminierung und festgelegten Frauenbildern. Eifrig wurden dabei Klassiker wie Tolstois "Anna Karenina" kritisch zerlegt und neu interpretiert. Ich war dabei ganz in meinem Element. Ich kämpfte schon seit meiner Jugend für Gleichberechtigung und war mit Feuereifer dabei, wenn es darum ging, auf Misstände hinzuweisen.

Doch es kam der Tag, an dem ich in der Bibliothek den Kopf hob und uns fleissige Studentinnen nachdenklich betrachtete. Mir fiel auf, dass es immer nur darum ging, was wir NICHT wollen, wovon wir uns befreien wollen, wogegen wir kämpfen! Aber all das konnte die tief in mir schlummernde Sehnsucht nicht stillen. Es gab keine Antwort auf die Frage nach meinem Selbstverständnis als Frau! Ich sehnte mich nach meiner eigenen Weiblichkeit. Zu der Zeit hatte ich schon mit Bauchtanz angefangen und teilte diese Leidenschaft mit einer Komillitonin, die sich während eines Seminars, in dem es mal wieder um das Frauenbild des 19. Jahrhunderts ging, wo Frauen "engelsgleich" sein und sich nur mit schönen Künsten beschäftigen sollten, zu mir rüber lehnte und flüsterte: "Wär das nicht herrlich? Stell Dir mal vor: den ganzen Tag nur singen, handarbeiten und Gedichte lesen. Ich hätte nichts dagegen".

Aber nicht, dass ich jetzt falsch verstanden werde! Nein, ich will nicht die Zeit zurück drehen. Unsere Mütter haben für unsere Rechte gekämpft, und wir profitieren heute noch davon. Und diese Entwicklung darf nicht rückwärts gehen. Es gibt immer noch viel Ungerechtigkeiten. Gleichberechtigt sind wir in vielen Bereichen immer noch nicht. Und dafür müssen wir weiter kämpfen, keine Frage!

Aber mein Traum von damals hatte eine tiefe Botschaft. Er erzählte davon, dass mir der Zugang verwehrt war zu etwas, das eigentlich meine ureigene Natur ist! Ich war dazu erzogen worden, analytisch zu denken und angelesenes Wissen in Form von Fakten zu sammeln. Richtig von Falsch zu unterscheiden. Und ich war gut darin, mir meinen Weg durch's Leben zu philosophieren! Zu denken, zu unterscheiden, zu resummieren. Aber etwas fehlte: Der Geschmack vom Leben selbst!

Beim Bauchtanz lernte ich starke Frauen kennen. Frauen, die es mit einer gewissen Selbstverständlichkeit genossen, mit einem weiblichen Körper gesegnet zu sein. Die sich wohl fühlten in der eigenen Haut und ihre Lebensfreude durch feine Muskeln vibrieren liessen.

Aber beim Bauchtanz lernte ich auch Anderes kennen, das mehr mit der Darstellung von einem Bild von Weiblichkeit zu tun hatte. Manches davon erinnerte entfernt an Pin Up Darstellungen. Das war es nicht, was ich suchte. Ich wollte kein Bild bedienen, keine Rolle spielen und dabei vielleicht hungrig auf Applaus hoffend und darauf, mich selbst und meine Weiblichkeit irgendwo im Spiegelbild zu finden.

Aber was ist das eigentlich: Weiblichkeit? Was macht uns als Frauen denn "weiblich"? Sicher nicht etwas, das von Aussen hinzugefügt werden muss, denn die Weiblichkeit ist ja im Wesen unserer Körper bereits enthalten. Vielmehr ist es das, was durchscheint, wenn eine Frau ganz natürlich sie selbst ist und in sich ruht.

In der chinesischen Vorstellung von Yin und Yang ist es vielleicht besser erklärt:
"Yang" steht dort für das aktive Prinzip und wird als männlich bezeichnet. Es steht für Sonne, Tag, Licht und Produktivität. "Yin" verkörpert das passive, Raum gebende und nach innen gerichtete Prinzip. Yin steht für Nacht, Empfänglichkeit und Stille. Yin und Yang bedingen sich gegenseitig und sind untrennbar miteinander verbunden. Jeder Mensch, egal ob Mann oder Frau, hat beide Aspekte in sich. In unserer heutigen Zeit werden jedoch alle Yang-Aspekte des Lebens stark überbetont, so dass ein Ungleichgewicht entstanden ist. Der orientalische Tanz bietet dagegen eine Möglichkeit, sich wieder nach Innen zu wenden, in die eigenen Tiefen einzutauchen und den Körper von Innen her zu spüren. Im wahrsten Sinne des Wortes in sich zu ruhen und dabei sinnlich und geerdet zu sein. Sinnlich = mit allen Sinnen erlebend, z.B. mit einem fein abgestimmten kinästhetischen Sinn, der uns den Körper in seinen feinen Strukturen von Innen her wahrnehmen und im Tanz auch "beherrschen" lässt.

Wir empfangen die Musik, und der Körper setzt sich in Bewegung. In jedem Moment präsent und neu können wir uns mit der Musik verbinden. Das ist der Yin Aspekt. Aber es gibt auch einen Yang Aspekt im Orientalischen Tanz, denn wir wollen unser Erleben auch nach Aussen in eine klare Form bringen. Es erfordert Training und einen langen Atem, diesen Tanz zu erlernen. Oft gibt es Frustrationserlebnisse, wenn etwas nicht gleich auf Anhieb klappt. Dann brauchen wir Durchhaltevermögen. Und nicht zuletzt brauchen wir auch Mut, wenn wir uns mit unserem Tanz zeigen wollen. Je inniger unser Tanz mit unserem inneren Empfinden verbunden ist, desto mehr Mut braucht es, sich damit zu zeigen, aber umso berührender ist es auch, dabei zuzuschauen. Zu sehen, wie eine Frau vollkommen im Tanz aufgeht, ist eins der berührendsten Erlebnisse, die ich so oft im Laufe meines Unterrichtens erleben durfte.

Ich bin heute froh, dass ich dem Ruf meiner Yin-Seite damals gefolgt bin und der Wissenschaft den Rücken gekehrt habe. Auch, wenn das eine das andere nicht ausschliessen muss! Aber wenn wir zu weit in die eine Richtung gegangen sind, ist es gut, auch einmal in die andere Richtung zu gehen.







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